Die Publizistin, Beraterin und Professorin Prof. Dr. Christina Weiss wurde 1953 in St. Ingbert/Saar geboren und war von 2002-2005 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. In ihrem Amt als Kulturstaatsministerin setzte sie sich besonders für die experimentelle Kunst und Kultur sowie die Filmförderung ein. Seit 2008 ist Christina Weiss Vorsitzende des Vereins der Freunde der Nationalgalerie und seit 2006 gehört sie zum Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Als Literatur- und Kunstkritikerin arbeitete sie für ART, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Deutschlandfunk, Südwestfunk und leitete das Literaturhaus Hamburg.
kunstundhelden: Wodurch zeichnen sich die Kunstwerke aus, die Sie am meisten ansprechen?
Christina Weiss: Ich suche im Kunstwerk die Offenheit von Vieldeutigkeit, die Irritation, den immer wieder anderen Blick auf die Welt, der mir vorher so noch nie möglich war. Das Kunstwerk, das keine Erwartungen erfüllt. Ich möchte lesen, lesen und/oder hören, was mir eine neue andere Einsicht in Dinge, Zusammenhänge, menschliche Abgründe und Verhaltensweisen verschafft.
Ich liebe es von einem Kunstwerk am Schlaffitchen gepackt und durchgerüttelt zu werden. Auch wenn die Begegnung mit einem Kunstwerk – meist mit denen, die man schon kennt, die man liebt und gerne mit Genuss wiedererlebt – auch Balsam sein kann, ist es mir lieber durch die Kunst ein Stück kreative Subversion zu erfahren – immer wieder neu, zu verschiedenen Zeiten meines Lebens und in immer wieder neuen Lebenszusammenhängen. Ich suche in der Kunst die Freiheit des Denkens und den Möglichkeitssinn (Robert Musil).
Durch das Kunstwerk lernt man die Dinge so wahrzunehmen, dass man weiß und erkennt: Das was ich meine wie es ist, ist gar nicht die absolute Wahrheit, sondern es kann alles auch anders sein und es ist eigentlich auch alles immer wieder anders.
kunstundhelden: Welches Kunstwerk wären Sie persönlich gerne, wenn Sie die Wahl hätten?
Christina Weiss: Ich bin froh, dass ich lebe und als Mensch die Fähigkeit habe, mich durch die Begegnung mit Kunstwerken lebendig und geistig wach zu halten. Ich möchte keinen Tag ohne Kunst leben. Manchmal habe ich mir in schwierigen Verhandlungssituationen die Situation, in der ich mich befand auch als Theaterstück vorgestellt – jeder hat eine Rolle – er spielt sie gut oder schlecht. Das schafft eine gute Distanz von eigener Zweckgerichtetheit und erzeugt Milde den anderen gegenüber.
Wenn ich mir ein Kunstwerk als „Grab“ suchen dürfte, möchte ich ein Satz von Lawrence Weiner im öffentlichen Raum einer Großstadt sein. Eine Gruppe von Wörtern an einer Wand mehrdeutig und von Passanten überraschend wahrgenommen – und für jeden anders mit sich in Verbindung gebracht werden. Das wäre wie ein Weiterleben in völliger Freiheit im Denken anderer und zu anderen Zeiten.
kunstundhelden: Welchem „Zweck“ dient Kunst Ihrer Meinung nach?
Christina Weiss: Die Kunst ist per definitionem zweckfrei. Nur das offene Kunstwerk erhält seine Deutungsmöglichkeit über Epochen. Jedem Rezipienten ist das Kunstwerk Anstoß zum intensiven Wahrnehmen und Nachdenken über die eigene Reaktion. Die ganz wichtige Rolle der Kunst ist – das hat auch schon Friedrich Schiller gesagt – dass sie alle Fähigkeiten des Menschen aktiviert, also Wahrnehmung schärft, Emotionen zulässt – Emotionen, die durch Selbstbeobachtung bewusst werden, die Reflexion und die Imaginationsfähigkeit. Das ist die Funktion von Kunst in der Gesellschaft, dass sie die Freiheit des Denkens erhält, ich kenne sonst keinen Raum in unserem Leben, wo das sonst stattfindet.
kunstundhelden: „Braucht“ der Mensch Kunst? Wie würde die Welt ohne Kunst Ihrer Meinung nach aussehen?
Christina Weiss: Die Begegnung mit Kunstwerken lehrt uns den Möglichkeitssinn, die Möglichkeit zu begreifen, dass alles immer auch anders gesehen werden kann. Kunst aktiviert die Phantasie als kreative Energie – als die Chance, sich aus dem engen zweckorientierten Alltag immer wieder heraus zu katapultieren. Kunst schärft die Sinne, schafft einen Spielraum für Gefühle und gibt dem Verstand den Anstoß zu spielerischer Reflexion.
kunstundhelden: Sie haben sich während Ihrer Amtszeit als Bundesbeauftragte für Kultur und Medien besonders für experimentelle Kunst und Kultur eingesetzt, welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Kunst und Kulturpolitik für die Gesellschaft? Welche besonderen Fähigkeiten besitzen Künstler, die wichtig für eine Gesellschaft sind?
Christina Weiss: Kulturpolitik hat selbstverständlich eine für die Gesellschaft eminent wichtige Bildungsaufgabe. Bewahrung des Wissens und der immer wieder neu aufladbaren Begegnung mit der Tradition der Kulturgeschichte. Deshalb finanziert der Staat in Deutschland Museen, Theater und Konzertsäle. Jedem Mitglied der Gesellschaft soll prinzipiell zum Preis einer Kinokarte der Zugang zur Kultur möglich und erschwinglich sein.
Die Gefahr bei der Rezeption alter und klassischer Kunst liegt jedoch darin, dass wir zu leichtfertig Kunst als schmückendes Beiwerk „genießen“ – im Wort „Kunstgenuss“ verbirgt sich Oberflächlichkeit des Wiedererkennens von etwas erwarteten Schönen. Deshalb plädiere ich sehr für die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Künsten. Ein Kunstwerk, das in unserer Zeit entstanden ist, geht uns alle direkt an. Es berührt uns und weitet unseren Horizont. Es fordert uns zum Umdenken auf. „all art has been contemporary“, dieser Neonschriftzug des italienischen Künstlers Maurizio Nannucci war jahrelang am Alten Museum in Berlin zu sehen. Auch die Antike war zu ihrer Zeit zeitgenössisch.
Die Kulturpolitik muss die Spielräume der Künste offen halten, damit neue Kunst die Chance hat, sich einzumischen. Die Künstler sind Seismographen der Gesellschaft, sie vermitteln die Freiheit des Denkens. Sie erkennen Probleme früher, sie öffnen unsere Visionsfähigkeit und damit der Gesellschaft die Zukunftsfähigkeit.
kunstundhelden: Wo sahen Sie den Schwerpunkt bei Ihrer Tätigkeit als Kulturstaatsministerin?
Christina Weiss: Staatsministerin – das ist schon sehr staatstragend. Die Kunstinstitutionen, die einem quasi „gehören“, wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder Stiftung Weimarer Klassik sind sehr starre Gebilde und sehr schwer veränderbar, weil sie noch sehr vom Beamtengesetz dominiert sind, es ist fast nicht möglich die starren Strukturen aufzubrechen. Doch mit Hilfe der Kulturstiftung des Bundes ist es gelungen, auch „Leuchttürme“ der Gegenwartskunst zu fördern, die Donaueschinger-Musiktage oder die Documenta. Es war mir sehr wichtig, dass es nicht nur die Gedenk- und Klassikstiftungen gibt, sondern dass auch noch andere Spielräume möglich sind.
Ich war Kulturpolitikerin ohne Partei, aber eindeutig für die Kultur. Die anderen Politiker haben das Thema an mich delegiert – auch mit Vertrauen. Und dann kann man auch wirklich etwas machen, wenn einem geglaubt wird, wenn man von Qualität spricht. Ich hatte allerdings auch Glück mit den „Chefs“, mit Henning Voscherau, Ortwin Runde und Gerhard Schröder. Schröder zum Beispiel hat es akzeptiert, dass ich in der Woche vor meinem Amtseintritt gesagt habe, dass ich eher Bayreuth das Geld kürzen würde, um Donaueschingen zu finanzieren, weil ich denke, dass sich Bayreuth auch durch Eintrittskarten weitaus besser finanzieren könnte. Wahrscheinlich ist die Kulturpolitik wie die Wissenschaftspolitik, einer der Politikzweige, die am meisten Fachwissen erfordern würden. Ich sehe jetzt aber auch mit großer Besorgnis, dass das nicht so gehandhabt wird!
kunstundhelden: Sie arbeiten sowohl im Literaturbereich als auch in der Kunstbranche. Inwiefern unterscheiden sich die beiden Bereiche?
Christina Weiss: Vermarktungswille dominiert in allen Bereichen, wenn das Kunstwerk den internationalen Markt betritt. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Grade der Marktanpassung und unterschiedliche Märkte. Der Kunstmarkt ist ein Hype für das Publikum – egal ob es um den Grad eines Bestsellers geht oder um die Verkaufspreise bei Werken der bildenden Kunst. Bei der Literatur geht es eben nicht um soviel Geld, selbst wenn die Schriftsteller einen Bestseller geschrieben haben.
Der Kunstmarkt verzerrt sehr viel und fragt letztlich nicht allzu sehr nach Qualität. Es ist ein Hype für die, die Kunst kaufen wollen, manchmal schielen sie dann auch noch auf Gewinnoptimierung, also dass es in jedem Fall Kunst ist, die wertvoller wird, haben aber selber gar keine leidenschaftliche Beziehung dazu. Sammeln ohne Leidenschaft ist für mich eine schwierige Angelegenheit. Viele kaufen Bilder, auch ein bisschen als Dekor und das geht eben mit der Literatur nicht und mit der Musik, die heute komponiert wird schon gar nicht. Da ist die bildende Kunst relativ nah am Filmbereich, wo der Markt die Gesetze vorgibt.
kunstundhelden: Glauben Sie, dass sich diese Entwicklung erst in den letzte Jahren vollzogen hat?
Christina Weiss: Ja, sehr stark. Diesen Hype gibt es seit es Kunstmessen gibt, aber es ist richtig schick geworden sich als Kunstsammler zu betätigen. Es gibt eine gesellschaftliche Anerkennung. Ich habe auch gar nichts dagegen – es ist nur so, dass ich mit Freuden feststelle, dass es auch Künstler gibt, die sich diesem Marktgeschehen entziehen und Werke schaffen, die entweder ins Museum kommen können oder ihr Publikum in Ausstellungen erreichen, aber nicht gut käuflich sind und diese Künstler wissen das auch vorher.
Ich sehe die Verzerrung durch den Markt kritisch. Das gute Regulativ dagegen sind bei der Bildenden Kunst die Museen, wo das einzige was zählen sollte die Qualität ist und wenn ein Museumsdirektor einen Ankauf tätigt, dann ist das für die Ewigkeit.
Ein Künstler der von seiner Arbeit nicht besessen ist, arbeitet wahrscheinlich für den Markt. Aber diejenigen, die nach einer Aussage ringen, die lassen sich nicht davon beeindrucken. Experimentell Schreibende wie Oswald Egger, ein junger Mensch, der im Suhrkamp-Verlag publizieren darf. Er schreibt eben Texte, die definitiv nicht geradlinig verständlich sind, sondern man muss sich durch die Wörter bewegen und sich seine eigenen Welten daraus schaffen.
Diese Neugier auf eine Erfahrung, die man außerhalb dieses Werkes nicht machen kann, ist für mich die wichtigste Eigenschaft im Leben überhaupt. Wo ist etwas Neues entstanden, das mich ein Stück weiterbringt? Danach habe ich von Anfang an gesucht. Das klappt nicht bei jedem Menschen mit jedem Werk. Ich unterscheide auch gar nicht zwischen Hoch- und Nicht-Hoch-Kultur, das kann bei einem guten Popsong genauso funktionieren wie bei einem Stück E-Musik. Diese Trennung mag ich nicht. Die Qualität liegt darin welche Wirkung davon ausgehen kann und wie lange: Hält das Werk sich so stark, dass es noch nach hundert Jahren lesbar, hörbar, anschaubar ist? Und die Menschen, die eben ganz andere Erfahrungen haben, was machen die daraus?
kunstundhelden: Wie verbringen Sie Ihre Freizeit lieber: Romane und Gedichte lesend oder Ausstellungen besuchend? Welcher Roman und welche Ausstellung hat Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt und wieso?
Christina Weiss: Ich weiß nicht, was Freizeit ist. Ich lese entweder, höre Musik oder schreibe, allenfalls gehe ich mal ins Kino, das ist das höchste an Freizeit, was ich mir vorstellen kann. Ich könnte kein halbes Jahr verbringen ohne zu lesen, ich könnte aber ein halbes Jahr verbringen, ohne Ausstellungen zu besuchen, das kann ich aber auch sagen, weil ich die Bilder im Kopf habe. Vielleicht gehe ich am liebsten in Konzerte mit neuer Musik, das ist eine Einmaligkeit der Erfahrung, das ist nicht wiederholbar, weil es immer anders ist. Und weil ich nie über Musik geschrieben habe, bin ich da auch am unbefangensten.
Ich lese eigentlich immer – ein Buch gehört in jedem Fall in die Handtasche – ich liebe den Konzentrationsraum des Lesens. Ich suche selbstverständlich aber auch in Ausstellungen nach der Begegnung mit Kunst wie ich auch Klangräume oder Konzerte besuche. An Neugier mangelt es mir bis heute noch nicht. Die Sinne trachten immer wieder nach Reizen, die den Verstand herausfordern.
Friederike Mayröcker, ist eine Schriftstellerin, die für mich sensationell ist. Ich habe alle ihre Bücher gelesen. Die Texte erhalten eine Spannung bis heute. Was sie mit der Sprache macht, das haut mich jedes mal wieder um. Ich lese auch um zu wissen, wer was schreibt.
Die Klanginstallation von Konrad Smolenski im Polnischen Pavillon auf der Biennale Venedig 2013 hat mich besonders fasziniert. Auch Taryn Simon, war für mich eine Schlüsselerfahrung. Wie man mit Fotografie Geschichte so erzählen kann, dass sie auch eine offene Geschichte bleibt und trotzdem identifizierbar ist, außerdem die Ausstellung „Anton Graff – Gesichter einer Epoche“, die letztes Jahr in der Alten Nationalgalerie gezeigt wurde.
kunstundhelden: Mögen Sie Kunst, die so richtig provoziert?
Christina Weiss: Ja, das kann ich deshalb mögen, weil ich provoziert werden will. Der Alltag provoziert mich nicht. Ich möchte durchgeschüttelt werden, eine richtige kreative Subversion erleben.
Alle Diktaturen der Welt verbieten die Freiheit der Kunst, d.h. es muss etwas gefährliches sein. Der Mut zur eigenen Meinung, also wenn ich mit einem Kunstwerk zusammentreffe, bilde ich mir eine Meinung und sollte zu der auch stehen und sollte sie vor allem auch äußern dürfen. Und ganz viele haben Angst davor diese Meinung zu äußern. Aber zu merken, dass man Angst hat, die Meinung über ein Kunstwerk zu äußern, macht einem die eigene Feigheit deutlich.
kunstundhelden: Haben Sie einen Lieblingskünstler?
Christina Weiss: Halle Darboven war für mich eine ganz große Figur. So wie Lawrence Weiner, Olav Christopher Jenssen, David Tremlett. Also diese Richtung der Kunst: Sehr pure Werke, die aber die Auseinandersetzung provozieren und anregen.
kunstundhelden: Herzlichen Dank für das Gespräch!
(Das Interview führten Anna Knüpfing und Anne Zdunek)
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